Verknüpfungen

Ich habe das Glück, einen nicht besonders langen Arbeitsweg zu haben, aber hin und wieder muss ich auf Dienstreise, fahre auswärts auf Konzerte (und abends wieder zurück), oder es gibt andere Situationen, bei denen ich irgendwo unterwegs bin und gelegentlich gerne vor Ort ein Fahrrad dabei hätte.

Bling!

So reifte langsam aber sicher die Idee, mir ein Faltrad zuzulegen. Erstmal nur ein Einsteigermodell, aber auch keinen billigen Supermarktschrott. Ein Brompton war mir zu teuer, dafür wären die Einsätze dann wohl doch nicht häufig genug, aber die Modelle asiatischer Hersteller wie Tern oder Dahon sahen vielversprechend aus. Nachdem ich nun also schon ein paar Wochen sozusagen virtuell um ein solches Gefährt herumscharwenzelt bin, habe ich es vergangenen Mittwoch wahr gemacht und mir eines gekauft: Ein Tern Link C8.

Zunächst wollte ich es aber erstmal probefahren, nicht, dass ich dafür ein paar hundert Euro ausgebe und das Ganze hinterher aussieht wie ein Krusty-der-Clown-Stunt.

War aber gar nicht so schlimm. Klar, man muss ein paar Abstriche in der Ästhetik machen, aber beim Fahrgefühl gibt‘s nichts zu meckern, und mit der 8-Gang-Schaltung ist man ruckzuck auf der gleichen Endgeschwindigkeit, die auch ein durchschnittlicher Cityrad-Fahrer so zuwege bringt.

Das Rad ist ziemlich durchdacht, abgesehen davon, dass man aus mir unerfindlichen Gründen zwar einen Frontscheinwerfer mit Nabendynamo verbaut hat, sich bei der Rückleuchte aber für ein batteriebetriebenes Modell entschieden hat – obwohl am Scheinwerfer bereits alle Kontakte für die Verkabelung eines Rücklichtes vorhanden sind. Ich habe mir daher für 8 Euro noch ein vernünftiges Rück- inklusive Standlicht zugelegt und am Wochenende montiert.

Klischees wollen auch
bedient werden.

Im Zuge meiner Recherche rund um Falträder und ihre Anwendungszwecke bin ich nebenbei zufällig noch auf das Buch „Bicycle Diaries“ von David Byrne gestoßen.

Ja, genau dem David Byrne, der vor 30 Jahren bei Talking Head „Road to Nowhere“ sang, auf seinen Reisen schon damals immer ein Klapp- bzw. Faltrad dabei hatte und die Auftrittsorte eben damit erkundet und später in genau diesem Buch beschrieben hat. Das musste ich natürlich auch noch haben, zumal es für weniger als 2 Euro gebunden bei Amazon verkauft wird. (War wohl nicht so der Bestseller. Doch zum Buch vielleicht ein andermal.)

Wie sich nämlich herausstellt, ist so ein Faltrad hervorragend geeignet, Probleme zu lösen, die ich bisher eigentlich gar nicht hatte. Und das meine ich durchaus im sehr positiven Sinne.

Denn ich entschied mich – eingestimmt und ganz im Geiste von Mr. Byrne – am Sonntag dazu, das Rad mal einem Reisetest zu unterziehen und fuhr damit mehr oder weniger spontan zum Bahnhof. Ich setzte mich in die S-Bahn und fuhr nach Hannover, einerseits, weil dort die – retrospektiv betrachtet – recht lieblose Aktion „Lust aufs Rad“ stattfand, die sich als Vorwand entpuppte, einen verkaufsoffenen Sonntag abzuhalten und ansonsten nur ein paar Stände mit den üblichen Verdächtigen bot, die ein paar Flyer und ausgerechnet Fahrradhelme unters Volk brachten.

Andererseits aber wollte ich tatsächlich einfach mal die Gelegenheit nutzen, um mir Hannover vom Fahrrad aus anzusehen.

Dazu muss man wissen, dass ich zwar schon sehr häufig in Hannover, dort jedoch meistens per ÖPNV oder manchmal mit dem Auto unterwegs war. Gerade ersteres führt oft dazu, dass man im jeweiligen Stadtteil ankommt, als sei man direkt dort hingebeamt worden. Man steigt im Hauptbahnhof in die unterirdisch abfahrende Stadtbahn, und weil man selbst mit dem Vorankommen und der Navigation nichts zu tun hat, wartet man wie in einem Aufzug, bis die Zielhaltestelle aufgerufen wird, steigt aus und ist plötzlich einfach da.

Wie man dort hingekommen ist, welche Straßen man über- oder unterquert hat, welche Stadtteile durchfahren: Keine Ahnung.

Oft gibt es bei der Stadtbahn auch zwischen zwei eigentlich benachbarten Stadtteilen keine direkte Verbindung, so dass man von A nach B über zentrale Knotenpunkte fährt und die Nachbarschaft beider Stadtviertel gar nicht wahrnimmt.

Im Auto ist man wiederum ebenfalls von der Umwelt abgeschlossen und zudem noch damit beschäftigt, rechtzeitig Spuren auf innerstädtischen Hauptverkehrsadern zu wechseln, keine Ampelblitzer auszulösen, im Stau nicht zu dicht aufzufahren oder damit, einen Parkplatz zu suchen.

Mit dem Rad unterwegs, fing ich jedoch plötzlich an, die Zusammenhänge zwischen Stadtteilen zu kapieren. Ich ließ mich grob von einem Fahrradnavi leiten und machte mich einfach mal innerhalb Hannovers auf den Weg zu verschiedenen Orten, die ich in der Vergangenheit bereits besucht hatte.

Es war eine Offenbarung.

via OpenRouteService

Ständig bog ich um die Ecke und dachte plötzlich: „Hier war ich doch schon mal.“, „So hängt das also zusammen.“, „Das ist ja nur ein paar hundert Meter voneinander entfernt!“ oder „Ach, wenn man hier langfährt, kommt man direkt dorthin, wo ich sonst immer über diese eine Haltestelle gefahren bin.“

Assoziierte ich das „Link“ in der Modellbezeichnung des Faltrades bisher mit der eher technischen Verknüpfung oder Verbindung unterschiedlicher Verkehrsmittel, so erwies sich dieses kleine Gefährt als ideales Werkzeug, um die Verbindungen und Verknüpfungen verschiedener Stadtteile zu entdecken, die eine etwas größere Stadt wie Hannover ausmachen.

Wo immer ich etwas Interessantes sah, hielt ich kurz an, um es mir anzuschauen und vielleicht ein Foto zu machen. Macht das mal vom Auto aus.

Ich fuhr zu Konzertstätten, die ich kürzlich noch besucht hatte, radelte am früheren Wohnort eines Freundes vorbei, fuhr an kleinen Flüssen entlang, dann wiederum in die Gegend, wo ein anderer Freund früher mal lebte, darauf zum Maschsee und schließlich nicht zurück zum Hauptbahnhof, wo ich zuvor ausgestiegen war, sondern zu ein, zwei S-Bahn-Haltestellen weiter im Süden, einfach, weil ich Lust dazu hatte und so auch noch 2 Euro für die Rückfahrt sparte.

Zum ersten Mal begann ich, zumindest in ihrem Grundriss die Stadt zu verstehen, in der ich bisher mehr oder weniger nur zu einem flüchtigen Besuch war und mir wie ausgesetzt vorkam. Insgesamt legte ich fast 20 Kilometer in Hannover zurück, stand nie im Stau und habe gar nicht mitbekommen, wie lange ich unterwegs war, so viel Spaß hat das gemacht.

Eines ist schon mal sicher: Das war nicht die letzte Städtereise, die ich mit dem Faltrad unternehmen werde. Berlin, Hamburg und Bielefeld stehen wahrscheinlich als Nächstes auf dem Programm. Dann vielleicht Bremen, Braunschweig oder Göttingen. Und nach Hannover fahre ich bestimmt auch noch mal.

Halt. Doch. Mal. Die. Fresse.

Ich guck ja sehr selten Fußball, wenn überhaupt, dann allenfalls, wenn der FC St. Pauli mal auf einem Montagabend auf sport1 oder so zu sehen ist. Ansonsten bin ich der typische Eventfußballfan: EM und WM schaue ich mir an, gerne auch mit mehreren Leuten (die ich persönlich kennen muss, sonst nicht). Bundesliga interessiert mich nicht die Bohne, da kenne ich vielleicht fünf Spielernamen, wenn’s hoch kommt, aber nicht ihre Vereine. Bei der Champions League wüsste ich nicht mal, wie man sich qualifiziert, um da mitzuspielen, und beim DFB-Pokal darf offenbar jeder mal mitmachen, irgendwie so.

So bekomme ich es in aller Regel auch überhaupt nicht mit, wenn mal wieder eine neue Generation von Fußballkommentatoren herangewachsen ist.

Neulich hatte Lukas Podolski offenbar sowas wie seinen Ausstand aus der Nationalmannschaft. Er musste Fußball spielen, hätte er einen Schreibtischjob, gäb’s bei sowas Mettbrötchen und Sekt, aber er ist ja auch noch jung, vielleicht macht er ja noch eine Ausbildung zum Bürokaufmann.

In das Spiel habe ich aber auch nur durch Zufall reingesehen, nachdem eine andere Sendung oder Serienfolge, die die Frau und ich zusammen geguckt hatten, vorbei war. Jedenfalls, worauf ich hinaus wollte: Dieser Kommentator, der ging gar nicht.

DIe Stimme hatte ich vorher noch nie gehört, vielleicht darf bei nicht ganz so wichtigen Spielen auch mal der Nachwuchs ran, aber das war nicht das Problem. Viel schlimmer war, dass dieser junge Mann eine absolute Sprechmaschine war und alles, aber auch absolut alles, minutiös kommentierte und jede Bewegung beschrieb, die ohnehin auf dem Bildschirm zu sehen war.

„Gefährlicher Fehlpass, doch da macht sich ter Stegen[1. Den hatte ich mir seltsamerweise noch gemerkt.] ganz ganz breit, Habeichvergessen schießt, doch der Ball geht mindestens zweimeterfünfzig am Kasten vorbei, und da sehen wir auch Weißichnichtmehr mit seiner Ehefrau auf der Tribüne, weiter geht’s, das Spiel hat noch nicht die Klasse, die man bei einer solchen Begegnung erwarten darf, und der Ball wird weit abgeschlagen, landet bei Weißichdochnicht, der ihn ganz souverän weitergibt an Mirdochegal, doch da geht Wiedereiner dazwischen,“ und so ging das die ganze Zeit.

Und ich dachte: „Orrr, das sehe ich doch selber, jetzt sei doch endlich mal ruhig, wenn das die neue Art und Weise ist, wie heutzutage Fußballspiele kommentiert werden, dann raste ich aus, dann brauche ich die nächste WM auch nicht mehr zu gucken, nun sei doch einmal, nur einmal still und lass mich doch mal selber sehen, was da passiert, und wieso hört man eigentlich überhaupt keine Stadionkulisse, das macht doch alles keinen Spaß so, und JETZT HALT DOCH MAL DIE FRESSE, VERDAMMT!“

Und da ist mir dann auch endlich aufgefallen, dass wir ja seit ein paar Wochen einen neuen Fernseher haben, und weil ich auf dem noch nie ein Fußballspiel gesehen hatte, wusste ich nicht, dass die Tonspur auf „Audiobeschreibung für Blinde“ eingestellt war. Muss einem doch auch mal einer sagen, sowas.

Tschüss, Brooks-Sattel

Ich schreibe das jetzt hier auf, damit ich mich daran erinnere, falls ich mal wieder in die Versuchung komme, für viel Geld einen Brooks-Ledersattel kaufen zu wollen.

Die Dinger sehen sehr elegant aus, keine Frage. Aber ich habe damit beim besten Willen einfach kein Glück gehabt. Ich hatte bereits vor etlichen Jahren mal einen Brooks-Sattel an meinem Rad und war schon nicht sehr zufrieden, jetzt habe ich es wieder versucht und muss feststellen: Brooks-Ledersättel und ich, wir passen nicht zusammen.

Ja, ich weiß, die muss man einfahren. Ist bekannt. Ich hab’s versucht, einen schmerzhaften Monat lang.

Aber im Ernst: Wenn ich mir Schuhe kaufe, dann erwarte ich auch, dass ich die nach 2 bis 3 Wochen tragen kann, ohne Blasen an den Füßen zu bekommen und nicht damit erst die Alpen überqueren oder sie nachts im Mondlicht mit aus Ozelot-Speichel gewonnenem Spezialfett einreiben muss.

Außerdem finde ich Gegenstände an einem Fahrrad, die unter keinen Umständen nass werden dürfen, irgendwie wenig alltagstauglich.

„Na gut,“ dachte ich, „schraubste das Teil noch einmal ans Tourenrad und drehst eine Runde.“ Vielleicht macht es ja die andere Sitzhaltung bequemer. Fazit: Nö, macht es nicht. Auf meinem Fünfzehn-Euro-Sattel sitze ich wesentlich besser.

Und beim Aufsteigen hat mir der Sattel dann auch noch die Hosentasche aufgerissen. Das Arschloch.

Drei Minuten später war er bei Ebay Kleinanzeigen online, jetzt ist er weg – mit erheblichem finanziellen Verlust. Nie wieder.

 

Fettleibigkeitsapologeten

Ich habe mich gestern aufgeregt. Ich bin gut darin, mich aufzuregen, das lasse ich dann meistens auf Twitter oder auf Facebook kurz raus, und dann geht’s wieder. Manchmal hält mein Ärger aber länger, und das ist diesmal wieder der Fall.

Seit ein paar Tagen nämlich poppen in meiner Timeline wieder die Fettleibigkeitsapologeten auf. Ihre Bewegung nennt sich „Fatacceptance“, und wenn sie nur dafür kämpfen würden, dass Dicke nicht diskriminiert werden, wäre dagegen ja gar nichts zu sagen. Es muss nicht jeder schlank und sportlich sein. Soll jeder mit sich und seinem Körper glücklich werden, da sind mir auch höhere Krankenkassenbeiträge egal. Muss man sich nur mal überlegen, was die ganzen Verletzungen kosten, die verursacht werden, weil sich Kreisklassenfußballer am Wochenende mit knapp 1‰ Restalkohol auf dem Kessel gegenseitig in die Knochen grätschen.

Diese Fatacceptance-Leute aber geben sich alle Mühe, auch denjenigen, die bereits abnehmen wollen, genau das auszureden.

Ihre Argumente sind immer die gleichen:

  • „So ungesund ist Übergewicht gar nicht.“
  • „Das ist alles nur eine verzerrte Körperwahrnehmung.“
  • „Mit Diäten kann man gar nicht dauerhaft abnehmen.“

Bei dem Bullshit ist mir gestern ein wenig die eine oder andere Ader angeschwollen.

https://twitter.com/larsreineke/status/841647278209273856

Vor drei Jahren war ich fett. Naja, mindestens dick. BMI über 30 halt. Vor drei Jahren war es praktisch undenkbar, dass ich mich darauf freue, nach Feierabend noch eine Radtour über knapp 30 km zu unternehmen. Vor drei Jahren schmerzten mir abends die Füße, ich war müde und träge. Mag ja sein, dass man das irgendwann nach Jahrzehnten Übergewicht als normal empfindet, aber es geht halt auch anders.

Seit ich mit einem BMI von unter 25 umher laufe, halte ich problemlos wesentlich längere Fußwege durch, Klamotten kaufen macht mir wieder Spaß, ich habe eine deutlich höhere Ausdauer, kann Treppen mühelos hochsteigen, habe keinen erhöhten Blutdruck und kein nächtliches Sodbrennen mehr.[1. Die Ausschusssitzungen, an denen ich noch im vergangenen Jahr teilgenommen habe, waren im 10. Stockwerk des Rathauses. Wenn ich nicht gerade erkältet war, bin da hochgelaufen, statt den Aufzug zu nehmen. Vor drei Jahren hätte ich der Sitzung danach nicht mehr folgen können.]

Mag ja sein, dass es Studien gibt, aus denen man herauslesen kann, dass leichtes[2. Haha! Als ob!] Übergewicht  nicht unbedingt gesundheitsschädlich sein muss, und dass Normalgewichtige auch nicht länger leben, aber wenn mir eines klar geworden ist, dann, dass sich die Lebensqualität ohne Übergewicht drastisch erhöht.

Kann auch gut sein, dass man immer wieder auf sein Gewicht achten muss, so dass manche das Gefühl haben, immer Diät halten zu müssen. Jahrzehntelanges Fehlverhalten geht halt nicht mal eben weg, nur weil man 2 Monate auf seine Ernährung geachtet hat. Also muss ich immer wieder mal Kalorien zählen, ist halt so. Es gibt Menschen, die intuitiv schlank bleiben, ich gehöre nun mal nicht dazu, so what? Andere brauchen keinen Wecker, um morgens pünktlich aufzustehen, ich schon. Kann ich mit leben.

Was mich dabei so ärgert?

Was diese Fatacceptance-Leute da von sich geben, sobald sie von anderen hören, dass sie eine Diät angefangen haben, ist exakt das gleiche, was Raucher und andere Suchtkranke erzählen, wenn Menschen in ihrer Umgebung der Droge abschwören.

  • „Sind ja nur ein paar Zigaretten am Tag.“
  • „So schlimm ist Rauchen gar nicht.“
  • „Mein Onkel / mein Schwager / mein Kollege / Helmut Schmidt ist auch uralt geworden.“
  • „Die meisten fangen eh wieder an.“
  • „Ich rauche aber gern.“

Meinetwegen kann jeder für sich selbst entscheiden, ob sie oder er übergewichtig sein möchte, aber bei dieser Art der Argumentation unterstelle ich andere Beweggründe: Sie wollen nicht die letzten Dicken (respektive „Raucher“) sein. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der selbst erfolgreich abgenommen oder das Rauchen aufgegeben und hinterher versucht hätte, andere von genau dieser Entscheidung abzubringen. Es sind immer die, die nicht zurückgelassen werden wollen.

Und aus purem Egoismus heraus anderen, die vielleicht endlich mal den Antrieb zu einem besseren, gesünderen Leben gefunden haben, so viele Steine wie möglich in den Weg zu legen, gehört so ziemlich zum Schäbigsten, was ich mir vorstellen kann.

„Gegen den Hass“ – Carolin Emcke

„Gegen den Hass“

Es ist schon vorgekommen, dass ich Bücher zweimal gekauft habe. Insbesondere seitdem ich einen Kindle zum Lesen verwende, habe ich mir das eine oder andere Buch nochmal digital zugelegt, das ich bereits auf Papier im Schrank stehen hatte. Es liest sich halt angenehmer, finde ich.

Der umgekehrte Fall, dass ich ein Buch auf dem e-Book-Reader bereits gelesen habe und es danach nochmal auf Papier kaufe, ist noch nie eingetreten. „Gegen den Hass“ von Carolin Emcke hingegen habe ich hinterher gleich viermal gekauft.

Das Buch gibt es bei Amazon in der gebundenen Ausgabe für stolze 20,- Euro, eine ganze Menge für gerade mal 240 Seiten, aber die sind so dicht gepackt mit zitierwürdigen Absätzen, wie ich es selten erlebt habe.

Carolin Emckes Essay beginnt zunächst mit grundlegenden Beschreibungen von Emotionen und Weltsichten, die zum Verständnis aber auch zum Entstehen des Hasses beitragen. Sie analysiert dabei, was eine gefilterte Sicht der Dinge in den Köpfen anrichten kann und wechselt die Perspektive,

[..] eine Facebook-Seite oder eine Zeitung oder ein Fernsehprogramm, wo Christen dann und nur dann erwähnt würden, wenn sie straffällig geworden sind und jedes einzelne Verbrechen, das eine christliche Person begeht, kausal mit ihrer Religionszugehörigkeit in Verbindung gebracht würde. Es gäbe keinen einzigen Bericht über verliebte Paare, die christlich sind, über christliche Rechtsanwältinnen, die Expertinnen in Steuerrecht sind, über katholische Landwirte oder protestantische Automechaniker, keine Meldungen über sakrale Chormusik oder Theaterfestivals, in denen christliche Schauspielerinnen und Schauspieler zu sehen sind, sondern nur und ausschließlich über den Ku-Klux-Klan, über die Anschläge radikaler Abtreibungsgegner und individuelle Verbrechen von häuslicher Gewalt über Missbrauch von Kindern bis zu Banküberfällen, Entführungen oder Raubmorden – alles immer unter der Überschrift »Christentum«. Wie würde ein solches Raster die Wahrnehmung verändern?

um dann zu einer minutiös geschilderten Beschreibung zweier Ereignisse überzuleiten: Dem wütenden Mob in Clausnitz, der vor einem eintreffenden Flüchtlingsbus die ankommenden Kinder und Frauen in entsetzliche Angst versetzt hat, sowie die Verhaftung des schwarzen Opfers von Polizeigewalt, Eric Garner, auf Staten Island, die mit seinem Tod endete.

Sehr eindringlich führt Emcke dem Leser sowohl den spontanen, unorganisierten Hass von Privatpersonen als auch den institutionellen Hass und Rassismus innerhalb von Behörden vor Augen.

Im folgenden Teil analysiert sie dem Hass zugrundeliegende Denkmuster, die immer wieder auf die Werte „Homogenität“, „Natürlichkeit“ und „Reinheit“ hinauslaufen und zeigt anschaulich die Absurdität solcher Wertvorstellungen:

Wenn in der Bundesrepublik nur Linkshändern das Recht auf Meinungsäußerung zugestanden würde, wenn nur Personen mit absolutem Gehör eine Schreiner-­Lehre absolvieren dürften, wenn nur Frauen vor Gericht als Zeuginnen zugelassen wären, wenn an öffentlichen Schulen nur jüdische Feiertage gelten würden, wenn nur homosexuelle Paare Kinder adoptieren dürften, wenn Menschen, die stottern, der Zugang zu öffentlichen Schwimmbädern verweigert würde, wenn Schalke­-Fans das Recht auf Versammlungsfreiheit entzogen würde, wenn nur Menschen mit einer Schuhgröße von über 45 in den Polizeidienst aufgenommen würden – so lägen in jedem einzelnen Fall willkürliche Codes vor, die über soziale Anerkennung, Freiheitsrechte und Zugang zu Chancen und Positionen entscheiden. Es wäre leicht zu erkennen, dass die jeweiligen Kriterien für Zugehörigkeit oder Zugang irrelevant sind für die Fähigkeiten, derer es bedarf, um ein bestimmtes Amt auszuüben, eine Aufgabe zu übernehmen – oder grundsätzlich irrelevant sind für das Recht, ein freies, selbstbestimmtes Leben zu leben.

In einigen Rezensionen unter anderem auf Amazon wird bemängelt, dass Emcke keine konkreten Strategien und Tips zum Umgang mit hasserfüllten Menschen anbieten würde. Das mag sein. „Gegen den Hass“ ist kein Ratgeber, sondern ein fulminantes Plädoyer für eine offene, tolerante und pluralistische Gesellschaft aber auch eine Argumentationshilfe für alle, die sich nicht mit Ressentiments und Chauvinismus abfinden wollen.

Das Buch ist gerade heute ein wichtiger Beitrag dafür, dass Humanismus und Mitgefühl gegen Isolationismus, Nationalismus und Ausgrenzung die Oberhand behalten.

Und darum habe ich es viermal gekauft, allerdings nicht bei Amazon (so viel Geld hatte ich dann doch nicht übrig), sondern bei der Bundeszentrale für politische Bildung, wo „Gegen den Hass“ zur Zeit für nur 4,50 Euro bestellt werden kann.

Von meinen Exemplaren werde ich einige verschenken, einige verleihen. Vielleicht ändert es etwas.