Burschenschaffner

800px-Burschenmuetze_Corps_HannoveraDas muss so Mitte der 90er gewesen sein.

Es war Sonntagnachmittag, ich hatte gerade einen Kumpel in Braunschweig besucht und war mit dem Zug auf dem Weg nach Hause. Vielleicht kam ich auch aus Göttingen, nagelt mich nicht fest.

Jedenfalls musste ich in Hildesheim umsteigen. Ich kaufte mir einen Becher Kaffee, und als der Zug bereitgestellt wurde, wie es bei der Bahn so schön heißt, stieg ich ein und suchte mir einen Platz. Ich war noch ziemlich müde vom vorangegangenen Wochenende und nippte dösend an meinem Getränk, als eine vierköpfige Gruppe Burschenschaftler einstieg und sich in der Sitzgruppe am Fenster gegenüber plazierte.

Sie gehörten offenbar zu einer farbentragenden Studentenverbindung, ich kenne mich da nicht so aus, sie hatten zumindest blaue Uniformjacken an, bunte Schärpen umgehängt und rote Mützen auf. Und darauf waren sie offensichtlich sehr stolz. Kaum älter als ich damals, also etwa 20 Jahre alt, saßen sie sich stocksteif in ihren Jacken gegenüber und achteten sorgsam darauf, dass auch ja keine Knitterfalte in ihre identitätsstiftende Oberbekleidung geriet. Ihre Mützen nahmen sie ebenfalls nicht ab, wie man das möglicherweise bei alltagstauglicherer Kopfbedeckung erwartet hätte.

Kurzum: Sie fanden sich in ihrer Rolle als zukünftige Stützen der Gesellschaft ganz furchtbar toll. Das sollte jedoch nicht allzu lange anhalten.

Denn nach wenigen Minuten geschah folgendes:

Die Lautsprecherdurchsage auf dem Bahnhof verkündete, dass der Zug, in dem wir saßen, jetzt abfahren würde.

Die Durchsage war noch nicht beendet, da sah ich aus meinem zum Bahnsteig gerichteten Fenster, wie ein junger Mann die Treppe hinaufeilte oder besser: Es versuchte.

Er bewegte sich in der für ihn maximal erreichbaren Geschwindigkeit auf die offene Zugtür zu, was nicht sehr schnell war, denn er konnte durch seine bis auf die Schultern reichenden Rastalocken nicht sehr gut sehen. Auch sein rappeldickevoller Bundeswehrrucksack, in dessen Deckel eine Isomatte eingerollt war, und die Tatsache, dass er – bis auf ein Paar sich bereits auflösende Jesuslatschen – kein nennenswertes Schuhwerk trug, waren ihm in seiner Vorwärtsbewegung keine große Hilfe.

Schwer atmend rumpelte er in unser Raucherabteil, warf sein Reisegepäck auf ein Sitzpolster und kramte einen kleinen, bestickten Stoffbeutel aus einer Seitentasche seines Rucksacks. Daraus entnahm er einen 20-Mark-Schein und eine selbstgedrehte Zigarette, die er sich umgehend anzündete. Erstmal durchatmen. Soviel Zeit musste sein.

Mit dem Geldschein in der Hand drehte er sich zu den vier sichtlich angewiderten Burschenschaftlern und nuschelte mit einer Modulation irgendwo zwischen Udo Lindenberg und einem schwer angeschlagenen Axel Schulz: “Hier, sarnsemal, äh, kann ich bei Ihnen noch’n Ticket kaufen? Der Automat im Bahnhof is kaputt.”

Wie die vier einstmals so stolzen, farbentragenden Studenten es mit ihrer ruhmreichen Tradition aufgenommen haben, dass sie von einem heruntergekommenen – Hippie – für Schaffner gehalten wurden, lässt sich leider nicht mehr wiedergeben, weil ich vor Lachen meinen Kaffee durch die Nase ausstieß.

Ich weiß nur: Ein Ticket haben sie ihm jedenfalls nicht verkauft. Aber ich glaube, das war ihm dann letzten Endes auch egal.