‘nen weichen Keks

ding-dong

Ich werde wach. Habe ich das gerade geträumt, oder hat es tatsächlich an der Tür geklingelt? Wie spät ist es eigentlich? 3 Uhr nachts. Mist. Hoffentlich kann ich wieder einschlafen.

ding-dong

Da klingelt ja wirklich jemand. Fuck. Die Nachbarn? Polizei? Feuerwehr? Brennt’s irgendwo? Werden wir evakuiert?

Ich schalte das Licht ein, ziehe mir schnell eine Jogginghose an und gehe barfuß nach unten. Ich öffne – immer noch etwas verschlafen – die Tür.

Davor steht eine dünne, mindestens 80 Jahre alte Frau, nur mit einer Stoffhose und einer Strickjacke bekleidet und zittert.

“Ich … ich war mit dem Hund unterwegs,” erzählt sie wimmernd, “und plötzlich war der weg, ich wohne da hinten, aber da ist jetzt die Tür zu, da macht keiner auf, mein Mann auch nicht, der ist auch nicht da, ach, ich weiß auch nicht, ich hab schon nebenan geklingelt, da hat keiner aufgemacht, kann ich bei Ihnen vielleicht warten, bis es hell wird?”

Oha.

Ich bin jetzt hellwach und erfasse die Situation. Wir wohnen in unmittelbarer Nähe zu einem Seniorenheim, und wahrscheinlich ist die Frau eine entwischte Bewohnerin, etwas durcheinander und orientierungslos. Ist das schon Demenz? Keine Ahnung. Alleine kann ich die jedenfalls nicht Richtung Seniorenheim schicken, da kommt die in dem Zustand nie an.

“Na, kommen Sie erstmal rein.”

Ich führe sie ins Haus, vorsichtig durch den Flur, zum Esstisch. “Setzen Sie sich mal lieber hin,” sage ich und deute auf einen freien Stuhl. “Wie heißen Sie denn?” frage ich sie.

“Wessel. Wessel heiße ich. Haben Sie vielleicht ein Taschentuch? Jetzt läuft mir auch noch die Nase.”

“Hier bitteschön, aber jetzt setzen Sie sich erstmal.” Auf dem Stuhl daneben liegt der Kater und schläft völlig ungerührt. Ich hoffe, dass sie nicht allergisch ist oder vielleicht sogar Angst vor Katzen hat. “Wir haben zwei Katzen, ich hoffe, das macht Ihnen nichts.”

“Katzen? Nein, nein, ich mag Katzen.”

Mittlerweile ist auch meine Frau unten angekommen und schaut mich fragend an. Ich deute mit den Augen in die Himmelsrichtung, wo das Seniorenheim liegt und artikuliere stumm: “Von nebenan.” Sie nickt und setzt sich zu Frau Wessel.

Ich gehe nach oben, ziehe mir Socken an, greife zum Telefon und suche die Nummer des Seniorenheims heraus. Nach nur einmal Klingeln geht jemand ran.

“Seniorenheim Weserblick, Schwester Melanie.”

“Lars Reineke, guten Morgen. Vermissen Sie vielleicht eine Bewohnerin? Frau Wessel?”

“Frau Wessel? Ja, was ist denn mit ihr?”

“Die sitzt gerade bei uns unten am Esstisch und scheint nicht wirklich zu wissen, wo sie hingehört. Ich würde sie ja zu Ihnen bringen, aber ich habe Sorge, dass sie auf dem Weg Angst bekommt, weil sie uns ja gar nicht kennt.”

“Ach Gott, Entschuldigung, ich kann jetzt hier gar nicht weg, aber ich sage sofort einer Kollegin bescheid, die kommt gleich zu Ihnen. Wo wohnen Sie denn?”

Ich gebe ihr die Adresse, ziehe mir Schuhe an, gehe wieder nach unten und nicke meiner Frau zu, die sich bereits mit Frau Wessel unterhält. “Es kommt gleich jemand und bringt Sie nach Hause,” sagt sie zu ihr.

Ich gehe nach draußen und treffe an der Straße die Altenpflegerin.

“Das tut mir sehr leid,” entschuldigt sie sich auf dem Weg zu uns, “Frau Wessel hat sich wohl einfach rausgeschlichen. Vielen Dank, dass Sie sich gekümmert haben.”

“Naja, Sie können nichts dafür,” antworte ich, “es ist ja kein Gefängnis.”

“Ja, aber trotzdem, nachts um drei.”

“Halb so wild,” sage ich, “hier sind wir schon.”

Ich öffne der Altenpflegerin die Haustür und führe sie zur Essecke, wo sich Frau Wessel und meine Frau angeregt zu unterhalten scheinen.

“Frau Wessel! Was machen Sie denn für Sachen!?”

“Och, ja, ich weiß auch nicht…,” antwortet sie kleinlaut, lässt sich aber bereits von meiner Frau und der Pflegerin in die Senkrechte helfen.

Sie schaut mich an: “Was haben Sie denn für Hobbies? Rudern Sie?”

“Ich? Nein. Aber ich fahre gern Fahrrad.”

“In meiner Familie wird viel gerudert.”

“Ach so.”

“So, Frau Wessel,” unterbricht die Pflegerin, “jetzt ist aber auch mal gut. Sie können doch nicht mitten in der Nacht die Leute auf Trab halten!”

“Ach, das wollte ich wirklich nicht. Manchmal hat man einfach ‘nen weichen Keks,” sagt sie, während sie zur Haustür hinausgeführt wird.

Recht hat sie, denke ich.

“Kein Problem, alles halb so schlimm. Machen Sie’s gut, Frau Wessel.”

Wir gehen nach oben und legen uns wieder hin. Eine Weile liege ich wach, dann schlafe ich doch nochmal ein.

(Anmerkung: Das ist alles heute Nacht genau so passiert. Die Namen habe ich selbstverständlich geändert.)

5 Gedanken zu “‘nen weichen Keks

  1. Hach, da wird es mir ganz schwummerig.

    Da fällt mir die Geschichte ein, vllt gibt es da mehrere, wo nahe eines Heimes eine falsche Bushaltestelle steht, an dem sich manche Bewohner zum Warten sammeln.

  2. Ich habe mal auf dem Rückweg von einer Fortbildung den Patenonkel meines Bruders zufällig an der Straßenbahnhaltestelle gefunden – er wollte in die Stadt fahren, um seine Bankgeschäfte zu erledigen.
    Im Hochsommer in zu wärmer Kleidung, völlig erschöpft, desorientiert aus dem Wohnheim gelaufen. war auch spannend, bis sie ihn wieder geholt haben .

  3. In unserer WG und der Nachbarschaft haben wir reichlich Erfahrung mit Menschen in verschiedenen Stadien der Demenz. Es ist anstrengend, und ich bewundere alle, die sich zuhause oder beruflich um dementiell veränderte Menschen sorgen.

  4. Auch ich sage Danke.
    Meine nzwischen verstorbene, demente Mutter war auch einmal für einige Stunden aus dem Pflegeheim verschwunden, denn dort sind sie schließlich nicht eingesperrt, und wurde, für Winterkälte nur mangelhaft in Rock und Pulli gekleidet, von der durch aufmerksame Bürger informierten Polizei, zurück gebracht. Diese fand die Adresse des Heims schnell heraus, weil ihre Kleidung mit Etiketten, die ich anfertigen ließ, versehen war. Sie war vermutlich auf dem Weg nach Hause (ein tief sitzender Wunsch bei Dementen, wobei das Zuhause u.U.in der Kindheit liegen kann) einige Kilometer gelaufen.
    Ich habe davon GsD übrigens erst erfahren, als sie gut versorgt durch die Pflege im Heim in der warmen Badewanne lag und den “Ausflug” ohne Schaden überstanden hatte, sonst wäre ich vor Sorge (Großstadt Hamburg) umgekommen.

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